Es scheint ein Widerspruch zu sein: hochbegabt und ohne Schulabschluss. Doch genau dieses Phänomen ist in unserer Gesellschaft präsenter, als viele annehmen. Hochbegabt und ohne Schulabschluss? Das durfte nicht sein!
Immer wieder lese ich in den Medien von Genies, die mit 14 ihr Abitur machen oder von 16-Jährigen, die ihr Physik-Studium abgeschlossen haben. Das prägt das typische Bild von Hochbegabten in unserer Gesellschaft. Was aber, wenn du auch ein cleveres Kind hast, welches dich jeden Tag aufs Neue mit seinen großartigen Ideen und tiefgreifenden Gedanken verblüfft – aber in der Schule einfach versagt? Wenn es plötzlich 15 Jahre alt ist und nicht mehr zur Schule gehen will? Genau das ist uns als Familie passiert. Aber beginnen wir von vorne.
Gastbeitrag von Susanne Burzel: Kampf gegen das Underachievement
Susanne Burzel erzählt in ihrem Buch „Hochbegabt gescheitert – und neue Türen öffnen sich“, ihre Erfahrungsgeschichte als Mutter von zwei hochbegabten Kindern. Diese verweigerten teilweise bis zu 2 Jahren die Schule und gehören zu den sogenannten Underachievern (Minderleister).
Sie möchte Eltern Mut machen und Verantwortlichen den Blick öffnen für die besonderen Herausforderungen mit hochbegabten Kindern, die nicht in das Schulsystem zu passen scheinen.
In den letzten 20 Jahren beschäftigte sie sich intensiv mit Hochbegabung, Hochsensibilität, Fehl- und Doppeldiagnosen sowie den Grenzen im staatlichen Schulsystem. Mit großer Kraftanstrengung überwand sie zahlreiche Hürden und schaffte es, neue Wege zu finden, um ihren Kindern einen guten Start in ein eigenverantwortliches Leben zu ermöglichen.
Susanne Burzel führt seit über 12 Jahren ihre eigene Werbeagentur und profitiert von einer vielfältigen Erfahrung (Grundschullehramt, Diskothek, Werbekauffrau, Dipl. Betriebswirtin, Dirigentin, Autorin, Podcasterin). Sie entdeckte ihre eigene Hochbegabung erst, als sie 52 Jahre war.
Die verborgenen Hürden hochbegabter Kinder im Schulsystem
Anders als die anderen – clever und wild
Wenn du Mutter wirst, strömen viele neue Dinge auf dich ein. Du liebst dein Kind, umsorgst es und triffst dich mit anderen Müttern. Uns wurde früh klar, dass unser Sohn ein wenig anders ist als die anderen. Er war stets auf Achse, neugierig, kaum zu bremsen und brauchte unglaublich viel Input. Vor allem technische Dinge weckten sein großes Interesse, nichts war vor ihm sicher.
Ich war die Mutter, die ständig hinter ihrem Kind her war, weil es fernab des Spielplatzes die Welt entdecken wollte, während sich andere Mütter in Ruhe unterhielten. Ich war die, die sich entschuldigte, weil ihr Sohn wieder einmal einen Sandkasten auseinandergebaut oder Gartenschläuche ausgegraben hatte, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Glücklicherweise gab es nie großen Ärger, sondern alle hatten Verständnis. Mehr noch, mir wurde stets prophezeit, dass unser Sohn sicher einmal einen technischen Beruf erlernen würde.
Von der Schulverweigerung zur Hochbegabungserkennung
Erziehungsberatung und Diagnostiken – doch die Ursache blieb unerkannt
Dass unser Sohn clever war und viel wissen wollte, war allen klar, die mit ihm zu tun hatten. An Hochbegabung dachte aber niemand. Im Gegenteil, er fiel dadurch auf, dass er Regeln nicht befolgte, im Kindergarten kaum Bilder malte, in der Vorschule auf Ansprachen an die Gruppe nicht reagierte und bei Langeweile irgendetwas anstellte, was ihm gerade einfiel. Speziell in Vereinen bereitete ihm das große Probleme, da er damit immer wieder aneckte.
Wir erhielten folglich die Empfehlung, eine Erziehungsberatung aufzusuchen. Doch diese konnte auch nicht helfen, die Maßnahmen liefen ins Leere. Es folgte eine erste ADHS-Diagnostik, die sich mit einer überdurchschnittlichen Begabung bestätigte. Der Fokus lag von da an auf die Behandlung des ADHS, an die Begabung dachte niemand mehr.
Underachievement bei Hochbegabten: Ein oft übersehenes Phänomen
Die Schule bremste einige Hochbegabte aus – das Hausaufgabendilemma
Obwohl die Erzieherinnen darüber nachdachten, unseren Sohn ein Jahr zurückzustellen aus oben genannten problematischen Verhaltensgründen, ließen wir ihn normal einschulen. Glücklicherweise hatte er eine Klassenlehrerin, die sich mit ADHS gut auskannte und auch seine gute Begabung erkannte. Trotzdem wirbelte er regelmäßig die Morgenkreise durch seine Albernheiten durcheinander und war auch sonst im Unterricht kaum zu bändigen.
Die Hausaufgabensituation am Nachmittag entwickelte sich über Jahre hin dramatisch. Ein Beispiel: Unser Sohn sollte zwei Seiten den Buchstaben A schreiben. Nach einer Zeile legte er den Stift hin und sagte, er könne es, er wolle den nächsten Buchstaben lernen. Wurde ich nachdrücklicher mit meiner Aufforderung, bohrte er den Stift ins Heft und wurde wütend. Forderte ich ihn auf, das wegzuradieren und es leserlich zu schreiben, radierte er große Löcher ins Heft. Die Situation spitzte sich immer mehr zu.
Hochbegabung entdecken und fördern: Neue Wege für Bildung
Schulvermeidung – die Unerträglichkeit von Schule zeigte erste Spuren
Eine weitere Diagnostik in der Grundschulzeit bestätigte sein ADHS, die Begabung fiel dieses Mal durchschnittlich aus. Also schien das Thema vom Tisch zu sein. Wir setzten uns dafür ein, dass unser Sohn nach schwierigen vier Jahren in ein Gymnasium versetzt würde. Unsere Hoffnung war, dass er im Klassenverbund mitgezogen wird und wir wussten, dass er den schulischen Ansprüchen sicher genügen würde.
Es gab immer wieder Probleme, vor allem zeigte unser Sohn zwei Gesichter. Das eine war völlig desinteressiert, geistig abwesend, bis hin zur völligen Apathie im Unterricht. Das andere war das hochinteressierte, tief diskutierende, welches die Lehrer in Physik, Mathe und Politik/Wirtschaft völlig begeisterte. Zudem begann er immer mehr den Unterricht zu hinterfragen, wofür er dies oder jenes im späteren Leben brauchen würde.
Dass dieses Verhalten irgendwann seinen Schulerfolg beeinträchtigen würde, war klar. Mehr noch, unser Sohn klagte über körperliche Anspannungen und Krämpfe und vermied den Schulbesuch immer mehr durch zu spät-Kommen oder erhöhte Krankheitstage. Der Schulbesuch bereitete unserem Sohn regelrecht körperliche Schmerzen.
Der Zusammenbruch – ich will, aber ich kann nicht
Mittlerweile war unser Sohn 15 Jahre alt und sollte die neunte Klasse wiederholen. Aufgrund von Fehltagen und Weigerungen, den Schulstoff zu lernen, wenn sie für ihn keinen Sinn machten, wurden die Noten derart schlecht, dass dieser Schritt als einzige Möglichkeit blieb. Doch dann saß er am ersten Schultag schweigend und in sich versunken auf dem Bett. Er rührte sich nicht und war nicht dazu zu bewegen, in die Schule zu gehen. Er wolle ja, aber er könne nicht, sagte er.
Seine Verzweiflung sprang auf uns über, denn damit hatten wir nicht gerechnet. All die Jahre haben wir nach Möglichkeiten gesucht, unseren Sohn bestmöglich zu unterstützen und durch die Schule zu begleiten. Mittlerweile hatten wir auch eine Asperger-Autismus-Diagnostik hinter uns, deren Verdacht sich jedoch nicht bestätigte. Seit jenem Morgen blieben wir ratlos zurück und fühlten uns wie in einer dunklen, ausweglosen Sackgasse. Diese Hilflosigkeit dauerte ein paar Wochen an, bis ich den entscheidenden Impuls erhielt.
Underachievement – eine viel zu späte Erklärung
Unser Sohn zog sich immer mehr zurück und entzog sich auf seine Art der Schule. Er begleitete uns zwar zu den Fördergesprächen und zu Arzt- und Diagnostikterminen. Doch die meiste Zeit verbrachte er in seinem Zimmer und schloss sich ein. Zu Aktivitäten war er kaum noch zu bewegen. Doch obwohl er lieber für sich war, hatten wir nie den Eindruck, er sei depressiv. Er lernte immer noch viel, überraschte uns zu jeder Gelegenheit mit neuem Wissen. Insgesamt war er seit dem Eintritt der Pubertät ein ruhiger und hilfsbereiter Jugendlicher.
Eines Tages erhielt ich einen entscheidenden Impuls von unserem Förderschullehrer und stieß auf das Wort „Underachievement“. Auf einer Website wurde es in Verbindung mit Hochbegabung gebracht, aber ich dachte, vielleicht trifft es auch auf unseren Sohn zu. Alle Eigenheiten passten auf ihn, die dort beschrieben waren. Ich informierte mich, schaute Interviews zu dem Thema und war glücklich, endlich wieder ein Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Schließlich machte ich einen Coach ausfindig, der sich mit diesem Thema auskannte. Nach dem ersten persönlichen Kennenlernen empfahl er direkt eine Begabungsdiagnostik.
Hochbegabung – endlich durfte sie gesehen werden
Das Ergebnis verblüffte uns alle. Unser Sohn war hochbegabt – mit einem heterogenen Begabungsprofil. Auch wenn er sämtliche Diagnostiken geduldig über sich ergehen ließ, so war er nach der Begabungsdiagnostik aufgekratzt. Er ärgerte sich sogar, dass er kein 1×1 konnte, dann wäre er noch besser gewesen.
Ein Teilwert, das räumlich-visuelle Denken, kratzte an der Höchstbegabung. Warum hatte dies niemand vorher bemerkt? Konnten dadurch alle Schulprobleme erklärt werden? Und noch wichtiger: Was sollten wir jetzt tun? Wohin sollte die Reise gehen? Sollte es eine Lösung für unsere festgefahrene Situation geben? Wir leiteten die nächsten Schritte in die Wege.
Unser Sohn war mittlerweile 16 Jahre alt und der Schulbesuch misslang trotz des Coachings. Es war einfach zu viel passiert, das Kind war in den Brunnen gefallen. Er machte eine Reha, die ihm guttat. Nach kräftezehrendem und langem Hin und Her mit Schulamt, Jugendamt und sämtlichen Beteiligten gelang es uns schließlich, dass unser Sohn eine Förderschule für Hochbegabte besuchen konnte. Mit 17 Jahren zog er dazu in eine Wohngruppe. Hier waren weitere Hochbegabte untergebracht und wir konnten zusehen, wie unser Sohn sich öffnete.
Abschluss mit Traumnote – nach 2 Jahren Schulverweigerung
Unser Sohn hatte all die Jahre das Gefühl, nie richtig dazu zu gehören. Doch er schien mit sich selbst zufrieden zu sein – solange er etwas hatte, woran er tüfteln konnte. Richtig glücklich war er bei den Young Scientists, die leider nur 1 Jahr angeboten wurden sowie bei den vielfältigen Ferienspielaktionen. Doch seine Interessen wichen von denen seiner Mitschüler ab. Er hasste Small Talk und eckte mit seiner unverblümten und ehrlichen Art oft an. Und jetzt war er endlich unter Gleichgesinnten, mit denen er sich sehr gut verstand und austauschen konnte. In diesem Jahr absolvierte er seinen Realschulabschluss mit der Traumnote 2.
Heute kann ich sagen, dass der Besuch dieser Förderschule die letzte Möglichkeit für unseren Sohn war, wieder Fuß zu fassen und einen Weg für seine Zukunft zu ebnen. Das Umfeld passte und ermöglichte ihm, sein Potenzial, seine PS, wieder auf die Straße zu bringen. Wir haben über Jahre hinweg dafür gekämpft, und es hat sich gelohnt.
Unsere ganze Geschichte liest du in meinem Buch „Hochbegabt gescheitert – und neue Türen öffnen sich“ – bestellbar bei Amazon und im Buchhandel (ISBN: 978-3-9826201-6-9)
Weitere Infos zur Autorin und ihren Veröffentlichungen: www.susanneburzel.de